Digimon Story: Cyber Sleuth — auch etwas für Digimon-Neulinge?
VON SEBASTIAN BEYER
Ja, liebe Leser, auch wenn es euch vielleicht überraschen mag, es gibt sie noch:
Spieler, die vorher noch nie Berührungspunkte mit dem Digimon-Franchise hatten,
den Anime nie sahen, das Merchandise drumherum nie kauften.
So ein Mensch bin ich, und ich hatte mir genau diese Titel-Frage selber lange Zeit gestellt.
Story: Steht für sich
Die gute Nachricht vorweg:
Nein, ihr braucht keinerlei Vorwissen, um die Story verstehen zu können; sicherlich werden Kenner des Anime einen gewissen Wiedererkennungswert bei einigen Aspekten des Spiels genießen, und natürlich garantiert bei der Menagerie an digitalen Monstern, unter denen meiner Recherche zufolge zumindest einige Fan-Favoriten vorhanden sein sollten.
Zunächst einmal sollte erwähnt werden, daß Cyber Sleuth tatsächlich zwei Stories enthält:
Einerseits die namensgebende Story „Digimon Story: Cyber Sleuth“, andererseits aber auch die parallele Storyline „Digimon Story: Cyber Sleuth Hacker's Memory“.
In Ersterer wird euer Hauptcharakter im Laufe des ersten Kapitels zum „Cyber Sleuth“, also einem Privatdetektiv, der sich auf die digitale Welt spezialisiert, um dort Verbrechen aufzuklären, oder auch Quests zu lösen; wie für die Digimon-Welt typisch, sitzt ihr dabei aber nicht bloß vor einem Computer, sondern könnt tatsächlich die digitale Welt namens EDEN betreten, und dort als „Hacker“ die teils putzigen, teils bedrohlichen Digimon zur Bewältigung eurer Herausforderungen einsetzen.
In dieser Story seid ihr also im Wesentlichen damit beschäftigt, im Auftrag der Kunden eurer Privatdetektei Beweise zu finden, korrupte Konzerne zu entlarven, oder auch mal einfach nur ein Erinnerungsstück zu retten, welches im digitalen Nirvana zu versinken droht.
Dabei stoßt ihr nach und nach immer wieder auf Opfer einer mysteriösen „Krankheit“, welche scheinbar alle vorher in EDEN eingeloggt waren, und dann „nicht mehr ausloggen konnten“...
Was zunächst spannend klingt und beginnt, flaut aber über den Verlauf der Story erzähltechnisch eher ab, wird dabei niemals wirklich schlecht, aber auch nicht allzu erinnerungswürdig.
Etwas anders sieht es da bei der zweiten Story aus, „Hacker's Memory“, die parallel zur Hauptgeschichte erzählt wird, und von vornherein weniger Fokus auf die Story legt, dafür umso mehr mit den Stärken der Hauptstory punktet, nämlich Humor und vor allem das überraschend tolle Hybrid-Kampfsystem, zu dem ich weiter unten noch mehr sagen werde.
Stellt euch „Hacker's Memory“ am Besten als Story-DLC vor, der sich ganz bewusst selbst nicht allzu ernst nimmt, sondern eher als Fan-Service gedacht war.
Die Charaktere dieser Geschichte tauchen so immer mal wieder in der eigentlichen Hauptgeschichte auf, haben dort ihren Spaß, denn dort spielt ihr keinen „Hacker“, sondern einen Hacker, wenn ihr versteht ... weniger Polizeiarbeit, mehr Anarchie.
Gameplay: ein zweischneidiges Schwert
Auch das Gameplay muß man für beide Story-Teile getrennt bewerten, da sie sich in einigen kritischen Punkten erheblich unterscheiden.
Das liegt daran, daß die Hauptgeschichte, „Cyber Sleuth“, im Original natürlich deutlich vor „Hacker's Memory“ erschienen war, und der Story-DLC somit die Chance bekam und größtenteils auch nutzte, eher schwächere Gameplay-Aspekte des Hauptspiels zu verbessern.
In „Cyber Sleuth“ seid ihr, wie erwähnt, als Privatdetektiv unterwegs, und das nicht nur in der spannenden digitalen Welt mit ihrem tollen Hybrid-Kampfsystem, welches gekonnt die Stärken der, den Fans aus dem Anime bekannten, Digimon-Kämpfe mit den taktischen Optionen eines Shin Megami Tensei oder Persona verbindet; zusätzlich seid ihr aber eben auch in der realen Spielwelt unterwegs, und gerade diese Momente sind im direkten Vergleich dann oft eher langatmig, mit viel Hin- und Hergelaufe, und teils sehr ausufernden Dialogen.
So freut ihr euch dann also vermutlich wie auch ich immer wieder darauf, in die digitale Welt zurückkehren zu können, was außerhalb der Story-Events auch frei möglich ist, um etwa noch ein bestimmtes Digimon „fangen“ zu können.
Ich schreibe es bewusst in Anführungszeichen, weil Digimon sich spielmechanisch hier noch deutlicher von anderen Pocket Monster-Spielen abgrenzt; dazu etwas weiter unten dann noch mehr!
Zunächst der angesprochene Unterschied von „Hacker's Memory“ zur Hauptgeschichte:
Bandai hat hier deutlich spürbar auf das Feedback und die Wünsche der Fans reagiert, welche sich zum Einen vor allem mehr Digimon auf Niveau von „Cyber Sleuth“, zum Anderen aber eben auch weniger langatmige Real-Passagen gewünscht hatten.
So spielt etwa die originale Story keine sonderlich große Rolle mehr in dieser Parallel-Geschichte, vielmehr springen eure Charakter, wie erwähnt, eben eher von Highlight zu Highlight, und sind stets darauf bedacht, auch ja ihren Spaß zu haben mit ihren Aktionen.
Zwar ist auch in diesem Quasi-DLC nicht alles perfekt in Sachen Langatmigkeit, man spürt aber doch eine deutliche Straffung über weite Teile des Spiels.
Eine weitere große Stärke ist die Erweiterung des Digimon-Pools, mit mehr als 80 neuen und größtenteils sehr mächtigen Digimon der Mega- und Ultra-Stufen, außerdem haben die Entwickler noch einmal kräftig an der Balancing-Schraube gedreht, was gerade für Freunde des epischen Endgames in JRPGs eine gute Nachricht sein dürfte, da einige im Hauptspiel als zu schwach empfundene Digimon etwa verbessert worden sind.
Digimon werden nicht gefangen!
Ja, ganz richtig: ein mühsames Balancieren der Attacken, um den Gegner gerade genau richtig zu schwächen, und dann auch noch darauf hoffen zu müssen, daß der Zufall beim Einfangen gnädig gestimmt ist, wie man es aus einem anderen weltberühmten Titel dieser Machart kennt, entfällt bei Digimon Story: Cyber Sleuth komplett!
Anstatt also auf den Zufall und das Glück hoffen zu müssen, braucht ihr nur einige Male gegen das gleiche Digimon kämpfen, da nach jedem Kampf die besiegten Digimon gescannt werden, und ihr sie dann eurer Party hinzufügen könnt, sobald der Scan-Wert mindestens 100% erreicht hat.
„Mindestens" deshalb, weil ihr optional auch weitermachen könnt, bis ihr 200% erreicht habt, damit das erzeugte Digimon dann einige Boni auf die Statuswerte bekommt, und somit stärker ist als sein 100%-Pendant.
Mehr braucht es aber eben nicht, um an neue Digimon zu kommen!
So müsst ihr zwar auch, wie in anderen Titeln, ein gewisses Level an Grind in Kauf nehmen, insbesondere wenn ihr ein ganz bestimmtes Digimon freischalten wollt, aber immerhin bekommt ihr nach jedem erfolgreichen Kampf garantiert den Scan-Fortschritt, sodaß es keine Frustration geben sollte, wie man es eben sehr deutlich aus anderen Titeln kennt. ;)
Zuguterletzt muß ich aber natürlich auch noch die Evolution erwähnen, denn auch die ist bei Digimon ein bißchen anders, als man es vielleicht erwartet hätte: nicht nur könnt ihr eure Digimon „evolven“, sie also zu besseren, stärkeren Monstern entwickeln, ihr dürft sie danach sogar wieder „devolven“, also sich zurück zum Ausgangs-Monster entwickeln lassen!
Da alle von mir freigeschalteten Digimon multiple Optionen zur Auswahl hatten bei der Evolution, ist die „Devolution“ ein besonders nützliches Werkzeug, um wieder zurückgehen zu können, falls einem der gewählte Evolutionsschritt doch nicht gefällt, oder man etwa die Datenbank komplettieren möchte.
Dabei ist es hilfreich, daß einmal entwickelte Evolutionspfade dauerhaft freigeschaltet bleiben.
Fazit: ein JRPG mit Stärken und Schwächen
Die Titel-Frage lässt sich also meines Erachtens absolut mit „Ja“ beantworten!
Digimon Story: Cyber Sleuth Complete Edition ist definitiv auch für Spieler geeignet, die ansonsten noch nichts oder nur wenig mit der Digimon-Welt zu tun hatten.
Es ist auch ansonsten ein solides JRPG, welches allerdings den Fokus eher auf das wirklich gute Kampfsystem und den großen Fuhrpark an abwechslungsreichen Digimon legt, als darauf, eine erinnerungswürdige Geschichte zu erzählen — das ist aber etwas, dessen Gewichtung jeder Spieler für sich selbst entscheiden sollte, denn es ist schlicht eine Frage der persönlichen Vorlieben, ob ein „gutes“ Spiel eher stark bei der Story, oder beim Gameplay sein sollte.
Für Fans des Anime und der Digimon-Welt eine ganz klare Kaufempfehlung, für JRPG-Fans aber durchaus auch eine Empfehlung, da Digimon Story: Cyber Sleuth ein grundsolides JRPG mit einem sehr interessanten Hybrid-Kampfsystem ist, und mit der digitalen Welt auch einen im JRPG-Genre relativ frischen Ansatz verfolgt.
Schreibt mir ruhig in den Kommentaren, was für euch die wichtigsten Aspekte eines Spiels sind: Story, Gameplay, Maps, etc?